Flüchtlingsroute durch den Balkan

Endstation Serbien

Junger Muslim betet in einer illegalen Flüchtlingsunterkunft in Belgrad
Rückzug ins Gebet - Flüchtlingen haben sich einer Belgrader Lagerhalle eine improvisierte Moschee eingerichtet © Martin Gerner
Von Martin Gerner · 26.07.2017
Auf der Balkanroute war Serbien lange nur ein Durchgangsland für Geflüchtete. Doch seit Ungarn seine Grenze dicht gemacht hat, steigt die Zahl der Gestrandeten. Und so droht das Land zu einer der größten Wartehallen für Flüchtlinge im Herzen Europas zu werden.
Krnjica, ein Lager mit rund 1000 Flüchtlingen vor den Toren von Belgrads. Ein Dutzend schmuckloser, flacher Baracken, ungepflegter Rasen, Maschendrahtzaun um das Lager. Drinnen eine Ausgabestelle für Brot, die serbische Lagerleitung sitzt hier. Schon im Balkankrieg hat Krnjica Menschen auf der Flucht beherbergt. Der Unmut der Männer richtet sich vor allem gegen die Lagerleitung. Männer stehen in einem Pulk zusammen. Unmut in ihren Gesichtern.
"Wir hören aus anderen Flüchtlingslagern hier in Serbien, dass die Menschen nach drei bis vier Monaten die Lager verlassen und weitergehen. Uns hält man seit sieben oder neuen Monaten hier fest. Keiner kommt aus Krnjica weg. Wenn die serbischen Behörden nichts unternehmen, werden wir demonstrieren. Dann werden wir uns selbst auf den Weg machen nach Subotica, in Richtung ungarischer Grenze."
Die Männer reden auch von Bestechung. Gegen Geld, so meinen sie zu wissen, sicherten sich einige die besten Plätze auf einer Liste, um als Erste nach Ungarn zu gelangen. Das heizt das Misstrauen unter den Flüchtlingen an.
"Ok. I will do something for you, we will send somebody to Subotica.”
Ja. Sie werde etwas tun für sie, sagte die Leiterin im Flüchtlingslager. Es gibt Klagen über das Essen.
"I am here to …. not able to open the border."
Sie sei hier, um die Flüchtlinge mit Nahrung und Kleidern zu versorgen, so die Lagerchefin. Was sie nicht könne, sei die ungarische Grenze zu öffnen. Aber sie werde jemanden schicken, um mit den Ungarn zu verhandeln.

Ungarns Grenze sind dicht - Flüchtlinge sitzen in Belgrad fest

Krnjaca beherbergt vor allem afghanische und pakistanische Flüchtlinge. Davor waren es Syrer und Iraker. Einige Familien sind ein Jahr und länger auf der Flucht, mit Kind und Koffern. Fawad Hassan gehört dazu. Filmemacher aus Kabul. Vor rund 18 Monaten hat er Afghanistan verlassen. Ein kritischer Film über den Mord der Taliban an einem Aussteiger aus ihren Reihen drängte ihn zur Flucht.
"Die Psyche leidet sehr. Ich erlebe mich aggressiv. Ich fange an, mein eigenes Kind zu schlagen. Obwohl ich das gar nicht möchte. Das ist schlimmer geworden, seit die Grenze dicht ist. Die Umstände machen einen verrückt. Meine Kinder sollten Unterricht bekommen, in die Schule gehen, spielen, ein Fahrrad haben. Stattdessen hören sie von Polizei und Gewalt, sehen Schlepper und Inhaftierungen. Meine vierjährige Tochter fragt mich danach. Das macht einen fertig als Eltern."
Familie Fazeli lebt seit neun Monaten gemeinsam in einem kleinen Zimmer im Lager Krnjaca in Serbien
Familie Fazeli lebt seit neun Monaten gemeinsam in einem kleinen Zimmer im Lager Krnjaca in Serbien© Martin Gerner
Ein Zimmer hat jede Familie hier, eng wie ein Schlauch. Ein Schrank, ein Tisch – dazwischen Platz, um einmal Luft zu holen. Warten und Nichtstun zermürben die Flüchtlinge. 50 Euro pro Monat und Kind von den serbischen Behörden, so Hassan. Das war´s. Die Eltern sind auf tägliche Essensrationen angewiesen.
"Ich versuche mir Mut zu machen, zu vergessen. Abends spiele ich Musik. Oder spreche mit meiner Tochter Deutsch. Wir reden über Berlin und deutsche Städte. Immer mit diesem Ziel vor Augen. Um uns Mut zu machen. Um stark zu bleiben. Sobald du die Hoffnung aufgibst, bekommst du Depressionen. Aber ich will nicht aufgeben, ich möchte auch nicht, dass meine Familie aufgibt."

Warten und Nichtstun zermürben die Menschen

Um dem Nichtstun zu entkommen, dreht Hassan mit seinem Handy seinen Lageralltag. Auch meinen Besuch dreht er. Irgendwann will er das Material zusammenschneiden zu einem Film. Die Welt soll wissen, was Würde bedeutet und was zerstörte Menschenwürde ist, aus Sicht eines Flüchtlings.
"Möchten Sie Tee trinken? Nein, Danke."
"Möchten Sie Milch? Milch ist gut. Ja, bitte ein wenig Milch."
Mit seiner älteren Tochter hat Hassan einen vierwöchigen Deutsch-Kurs in Belgrad besucht. Jetzt lernen die beiden mit Hilfe des Internets auf ihrem Handy weiter.
"Möchten Sie Milch? Milch ist gut. Ja, bitte ein wenig Milch."

Belgrad Zentrum. Hier liegen, wenige Meter voneinander entfernt, drei Orte von zentraler Bedeutung für die Migranten: Die leeren Bushallen, die Hunderte alleinstehende Männer beherbergen, die sich nicht registrieren lassen wollen. Der sogenannte Afghanen-Park, wo die Männer Kontakt zu Schleppern aufnehmen. Und Miksaliste, ein einstöckiges Haus in dem serbische und internationale Hilfsorganisationen versuchen, die menschliche Not zu bekämpfen.
Dicht an dicht stehen und liegen Menschen im Eingangsbereich. Junge Ärzte versorgen Patienten im Stehen, verarzten kleine Wunden. Tabletten werden verteilt, entzündete Rachen untersucht. Hinter einer dünnen Trennwand eine Frisier- und Beauty-Ecke für Frauen, die hier geschützt sind vom Blick der Männer. Um jede Steckdose ein Pulk junger Männer, um ihre Handys aufzuladen.
"Es kommen laufend neue Flüchtlinge in Serbien an. Die eine Hälfte aus Mazedonien, die andere aus Bulgarien. Die Menschen sind in einem erbärmlichen Zustand. Buchstäblich barfuß. Ihre Schuhe fallen förmlich auseinander von den langen Märschen über die Grenze von Bulgarien und Mazedonien. Sie sind durch Regen und Schnee gegangen, oft ohne Möglichkeit die Kleider über Monate zu wechseln. Viele kommen krank an."
"Wir gehen davon aus, dass diesen Sommer noch mehr Flüchtlinge über die Grenze von Bulgarien und Mazedonien kommen. Viele Frauen mit Kindern darunter. Viele schutzbedürftige Gruppen also. Menschen sind wie Wasser: es findet überall seinen Weg findet, egal wie viele Hindernisse."
Goga hat Flucht selbst erlebt. Mit ihrer Familie musste sie in den Wirren des Balkan-Kriegs ihre Heimat verlassen.
"Ich bin ein Flüchtling aus Kroatien. 1995 musste ich meine Heimat verlassen. Erst nach Bosnien-Herzegowina, dann nach Serbien. Meine Kindheit wurde mit einem Mal durch den Krieg unterbrochen. Wie ein brutaler Schnitt. Ich musste bei null anfangen, verlor meine Freunde. Das war das Schlimmste. Ich konnte meine Schule nicht beenden. Alles was wir hatten verloren wir: das Haus der Familie, mit allem darin."
Jeden Abend werden in Miksaliste Schlafplätze verlost an Minderjährige. Die Jungen drängeln sich darum, um nicht in den verrotteten Hallen des Belgrader Busbahnhofs übernachten zu müssen, einen Steinwurf entfernt, wo das Leben hygienisch unhaltbar ist.

Unterschlupf in heruntergekommenen Hallen

In den Bushallen ist es selbst bei Tag so dunkel, dass man kaum seine Hand vor Augen sieht. Auf zerfasernder Pappe, zerschlissenen Matratzen oder in winzigen Zelten leben, nein, überleben junge Männer in kleinen Gruppen.
Gerüche von verbranntem Plastik mischen sich mit Fäulnis. In ihrer Not verbrennen junge Männer alles, was sie draußen finden: Styropor, Planken von Bahngleisen, Sperrmüll. Habib führt mich herum. Auch er nächtigt hier.

"Das Holz der Bahnplanken ist voll von Industrie-Ölen. Wenn man den Rauch einatmet, nimmt der Körper die Schadstoffe auf. Neulich fragte ich einen der Jungen hier, warum er sich nicht gewaschen hat. Sein Gesicht war gräulich angelaufen. Er sagte, er habe sich gewaschen. Er erzählte von den Bahnplanken über dem Feuer, das tagelang an seiner Matratze gelodert hatte. Da wurde mir klar, dass seine Haut von den Ölen und Schadstoffen getränkt war. Er bekam die Farbe nicht mehr aus dem Gesicht, sie hatte sich eingebrannt."

Der Afghane Habib lebt in einer illegalen Unterkunft in Belgrad
Der Afghane Habib möchte nach Westeuropa flüchten, bislang sind seine Versuche nach Ungarn zu gelangen, gescheitert © Martin Gerner
Vor seiner Flucht, so Habib, sei er Übersetzer für das US-Militär in Afghanistan gewesen. Von Serbien aus habe er mehrere Male versucht, nach Ungarn zu kommen oder Kroatien. Der jüngste Versuch liegt erst ein paar Stunden zurück:
"Es war um Mitternacht. Wir trafen in kleiner Gruppe auf unseren Kontaktmann. Zahlten ihm umgerechnet 1300 Euro, damit er uns über die kroatische Grenze nach Italien bringt. Er steckte uns in einen Laster. Als wir drinnen waren, versiegelte er die Tür. Dann kam die Grenze. Die Grenzer scannten das Fahrzeug. Sie entdeckten uns und nahmen uns fest. Sechs Stunden hielten sie uns fest. Dann bekamen wir eine schriftliche Aufforderung, Serbien binnen 72 Stunden zu verlassen. Ich sagte zu den Serben:`Ihr lasst uns hier nicht raus! Einerseits wollt ihr, dass wir Serbien verlassen. Andererseits hindert ihr uns daran.` Das war gestern Nacht bei Sid. Seitdem bin ich wieder in Belgrad."

1300 Euro für einen Fluchtversuch

Sieben, acht Mal habe er ähnliche Versuche unternommen, so Habib. Er wirkt nüchtern und fokussiert dabei, weniger verzweifelt:
"Ein anderes Mal hab ich es zu Fuß über die ungarische Grenze versucht. Wieder für 2500 Euro, mit Ziel Österreich. Wir schnitten ein Loch in den Grenzzaun. Aber die Polizei erwischte uns. Sie hetzten Hunde auf uns. Einige von uns wurden gebissen. Sie nahmen uns die Handys weg und machten sie kaputt. Ein anderes Mal im Winter nahmen sie uns die Socken weg und ließen uns barfuß durch den Schnee zurückmarschieren. Sie machen das zur Abschreckung, damit keiner es ein zweites Mal versucht."
Ahmed Abdullah, schon über 30, übersetzt für die Jungen aus den Bushallen und für die serbischen Helfer in diesem Nirwana der Sprachen. Er ist selber Flüchtling.
"Hier gibt es keine Zukunft. Ich besitze eine akademische Ausbildung. Ich bin studierter Psychologe. Ich kann arbeiten. Aber hier bin ich nur ein Übersetzer, weil man meine Dokumente nicht anerkennt. Die meisten Menschen sind zunehmend hoffnungslos. Ich kann das täglich in den Lagern beobachten. Sie lassen sich gehen. Einige fangen an, Alkohol zu trinken, auch unter meinen Zimmernachbarn. Auch, weil die Grenzen nach Ungarn sich schließen. Sie verlieren die Hoffnung, dass es noch weiter gehen könnte für sie. Psychisch macht einen das kaputt. Ich höre von so vielen Minderjährigen, die sich umbringen."
Wenige hundert Meter von Miksaliste entfernt, liegt die Hilfs-Initiative Info-Park. Gordan Panovic ist Aktivist der ersten Stunde.

Zwei Flüchtlinge lassen sich im Lager Krnjaca von den serbischen Behörden registrieren
Ein Leben im Wartestand - Flüchtlinge lassen sich im Lager Krnjaca von den serbischen Behörden registrieren © Martin Gerner
"Das ist die große Heuchelei der EU: Serbien als riesiger Parkplatz auf dem man 10.000 Menschen vorübergehend abstellt. Die Menschen kommen aus der EU, also von Griechenland und Mazedonien, und wollen weiter in die EU. Nach Ungarn, Österreich, Frankreich und Deutschland. Aber sie sind hier, in Serbien. Höchst unlogisch. Ein Fehler im System, das Serbien als nicht EU-Land zum Notnagel der EU macht. Und in Bulgarien warten weitere 13.000. 60.000 in Griechenland dazu."
Gordan Panovic ist Mitbegründer von Info-Park. Schließung und Wiedereröffnung – er hat alles mitgemacht.
"Im September 2015 haben wir Info-Park aufgemacht. Damals eher als ein Kiosk für Flüchtlinge auf der Durchreise: Wie helfen wir ihnen weiter nach Europa? Stellen sicher, dass sie nicht übers Ohr gehauen werden? Dann, im Frühjahr 2016 wurde es kompliziert mit der Schließung der EU Grenzen. Mit einem Mal war materielle Hilfe gefragt, nicht nur Informationen. Jeden Tag haben wir Essen für die Flüchtlinge ausgeben, 270.000 Rationen am Ende. Bis die Behörden uns zwangen, vorübergehend zu schließen. Ihr Argument: Wenn Info-Park schließt, wird weniger Essen ausgeteilt. Das zieht dann weniger Menschen an und so versiegt der Strom der Flüchtlinge. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Menschen fliehen ja nicht wegen der Essenausgabe."
Bei Info-Park haben Hassan uns seine Tochter in einem Kurs einige Brocken Deutsch gelernt.
"Wir haben Unterrichtsbücher hier, die auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nutzt: Erste Hilfe Deutsch. Wir arbeiten nicht mit dem BAMF zusammen, aber wir haben uns die Bücher in Deutschland besorgt. Wir bieten einen Deutschkurs an, damit die Flüchtlinge etwas lernen. Sprache ist Wissen. Das hilft ihnen später, auch wenn sie nicht in Deutschland ankommen, sondern wieder in Kabul. Es ist eine psychosoziale Hilfe. Auch eine mentale. Es ist wichtig, dass man ihren Traum nicht zerstört."

Serbien als Transitland leistet kaum Unterstützung

Verkehrte Welt: Serbisch lernen können die Flüchtlinge in Belgrad nicht. Denn solange Serbien offiziell als Transitland gilt, ist Integration Tabu. Ob in Belgrad oder auf dem Land: Einen Teil der Einheimischen plagen Sorgen wie die Deutschen, sagt Daniela Koracmandic von der serbischen Hilfsorganisation NSHC.
"Die Menschen sind verunsichert. Bisher hat es keine Gewalt gegeben. Weder gegen die Flüchtlinge, noch von Flüchtlingen an Einheimischen. Der Grund mag in der offiziellen Haltung der Regierung liegen. Die Menschen fragen: Was kosten uns die Flüchtlinge? Die Regierung sagt: bisher gar nichts. Die EU decke die Ausgaben, sagen sie. Sie erzählen der Bevölkerung, dass sie keine Last für uns seien. Aber wenn sich daran etwas ändert, wird alles anders. Denn Serbien ist ein armes Land."
Daniela hat im Balkan-Krieg ihre Heimat Kroatien verlassen müssen.
"Die Flüchtlinge zu integrieren ist keine Option zurzeit. Die Flüchtlinge wollen das auch nicht. Zugleich ist klar: Kaum einer kann noch über die ungarische Grenze. Wir müssen uns auf ihr Bleiben einrichten. Ich erwarte keine Gewalt. Die Zeit wird vielmehr ihr Werk verrichten. Ich habe das selbst erlebt im Balkankrieg. Es ist eine Frage der Gewöhnung, sich anzufreunden und zu bleiben. Aber für aktive Integration ist es zu früh."
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Hassan und seine Tochter lernen weiter Deutsch, soweit es geht. Sarah hat noch nie etwas von Nena gehört, aber das Lied von den 99 Luftballons kann sie singen.
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